Autismus verstehen

Aggressives Verhalten in der Autismus-Spektrum-Störung

autistischer Junge mit Basebolschläger, wütend

Aggressives Verhalten ist bei Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung genauso normal wie bei neurotypischen Kids. Die Aggression schützt das Selbstbild, drückt eine innere Not aus oder ist für das Kind ein zielführendes Verhalten.

Niemals ist ein aggressiver Ausdruck die Ursache.

99% der Menschen wollen gerne ein funktionierendes Mitglied der Gemeinschaft sein, gebraucht, respektiert und geliebt. Dies gilt ebenfalls für Autisten.

Warum werden Eltern mit autistischen Kindern vermehrt mit dem Thema Aggression konfrontiert?

Um die Ursache für aggressives und selbstverletztendes Verhalten bei autistischen Kindern zu finden, ist Grundlagenwissen in Entwicklungspsychologie die Voraussetzung.
Junge mit Schild "Frustration"

Seit 15 Jahren arbeite ich mit den Kleinen und mir sind nur wenige junge Menschen begegnet, die nicht regelmäßig mit sich deutlich äußernden Wut zu kämpfen haben. Gewalt im Kinderzimmer ist menschlich und gehört zum Lernprozess.

Nur um allen Missverständnissen vorzubeugen, damit meine ich natürlich keine Gewalt gegen Kinder, sondern welche, die von Kindern ausgeht gegen sich selbst oder andere!

Genauso, wie ein Kleinkind beim Gehen lernen hinfällt, verletzt ein junger Mensch sich und andere beim Erlernen der sozialen Kompetenz

WICHTIG: Diese Art, sich zu Äußern ist absolut in der Norm und sagt NICHTs darüber aus, welches Aggressionspotential dein Kind als Erwachsener haben wird.


Wenn dir jemand einreden will, dein autistisches Kind wird zum Tyrannen, weil es schreit, um sich schlägt, seinen Kopf gegen Boden & Wände haut, beißt oder Gegenstände wirft, ist diese Person keine gute Beratung in der Hinsicht. Wenn dir jemand sagt, dein Kind ist pauschal selbstmordgefährdet, weil es sich selbst verletzt, genauso wenig.

 

Was verursacht aggressives Verhalten in der Autismus-Spektrum-Störung?

Aggressives Verhalten lässt sich praktisch immer als Hilferuf auffassen.
Die Ursache liegt meist in einem der folgenden Punkte:

 

  • Akuter Stress Müdigkeit, Hunger, Trauer, Frust

  • Aufmerksamkeit Das Kind kennt keinen anderen Weg, um garantiert von den Bezugspersonen beachtet zu werden.

  • Frustration Gerade kleinere Kinder haben noch nicht gelernt, ihre Bedürfnisse aufzuschieben. Diese Fähigkeit, einen intensiven Wunsch nach hinten zu verschieben, muss geübt werden und das kann Jahre dauern.

  • Impulskontrollprobleme Es gibt Kinder, die bis ins achte, neunte Lebensjahr hinein Schwierigkeiten damit haben, ihre Impulse zu kontrollieren. Da führt ein winziger Auslöser zur Explosion. Doch mit viel Liebe und Geduld, lernen diese Kinder im Schulalter, sich zu beherrschen.

  • Wut Es ist einfach frustrierend, wenn das bestimmende Elternteil nie tut, was man will.

  • Eifersucht/Neid Gerade in Geschwisterkonflikten kann es viel mehr um das Teilen der elterlichen Liebe gehen, als um den aktuellen Streitpunkt.

  • Überforderung  Hierbei kann es sich sowohl um eine akute Situation handeln wie: Ich verstehe die Matheaufgabe nicht und der Frust entlädt sich Wut, als auch dauerhafte Überforderung durch ein zu hohes Pensum, zu wenig Schlaf, Mobbing usw.

  • Schadensabsichten  Diese Form ist aber extrem selten bei Kindern. Im Zweifel immer für den Angeklagten und erst mal andere Ursachen ausschließen. Meistens sind sie sich gar nicht bewusst, was ihr Verhalten beim Gegenüber an Gefühlen auslöst.

  • Reizüberflutung Kindern wird es schnell zuviel. Natürlich brauchen sie täglich eine gewisse Auslastung durch äußre Reize um die Lernprozesse anzuregen und ausreichend Bewegung, aber sehr schnell wird daraus auch Stress. Zwischen fördern und stressen liegt oft nur ein schmaler Grat.

  • Verschiebung der Wut Manche Kinder erleben Druck z.B im Elternhaus und lassen ihre Hilflosigkeit dann im Kindergarten an kleineren Kindern aus oder umgekehrt. Manchmal verschiebt sich das Ausleben auf einen späteren Zeitpunkt, weil im Entstehungsmoment kein sicheres Umfeld vorhanden ist.

  • Nährstoffmangel Manchmal führen auch  niedrige Nährstoffwerte zu Aggression oder Depression.
Alle Kinder dürfen in einem lebenslangen Prozess lernen, wer sie sind, wie sie ihren Bedürfnissen Ausdruck verleihen und anderen Menschen erklären, was sie brauchen um zufrieden, leistungsstark und erfolgreich zu sein.

3 externe Seiten, welche sich mit Aggression im Kindesalter befassen:

Das schweizer Elternmagazin Fritz & Franzi beschäftigt sich mit der Erziehung und Entwicklung von Kindern im Allgemeinen. Sie haben, wie ich finde, mehrere sehr hilfreiche und inhaltlich gute Artikel zum Thema der Aggression im Kindesalter geschrieben. Sie zeigen auf, was in der Norm liegt und was aus dem Rahmen fällt und damit besonderer Unterstützung bedarf.

www.fritzundfraenzi.ch

Ein hilfreicher, empathischer Artikel vom Familientherapeut Jesper Juul. Besonders gefällt mir die Ausarbeitung, dass Gewalt ein normales menschliches Verhaltensspektrum ist und dass der Gegenpol zur Aggression ein gesundes Selbstwertgefühl darstellt. Ausserdem gibt er praktische Beispiele, wie man der kindlichen Wut respektvoll begegnen kann.

Zum Artikel von Jesper Juul

Eine gelungene Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung in Existenzanalyse und Logotherapie von Julia Millonig. Das PDF befasst sich sehr detailliert mit der Begrifflichkeit der kindlichen Aggression. Die Grundlage der Thematik wird aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und kann dadurch mehr Verständnis für die Situation des Kindes schaffen.

Hier geht es zum PDF

Warum autistische Kinder viel mehr belastet sind als neurotypische.

Neurotypische Kinder haben einen Vorteil, sie begreifen die Welt um sich herum oft intuitiv und sind Reiz/Stress-resistenter. 

Automatisch spüren sie, das ein Lachen nicht immer Freude, sondern auch Verzweiflung bedeuten kann. Das Tränen nicht zwangsläufig physischen Schmerz als Ursache haben und das Schweigen nicht bedeutet, dass jemand nichts zu sagen hat. Sie erkennen einfacher, wenn sie jemanden verletzt haben oder warum jemand negativ auf sie reagiert und umschiffen damit frustrierende Situationen erfolgreicher.

Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung brauchen beim Erlernen der sozialen Norm viel mehr Unterstützung und genau da liegt die Schwierigkeit. Nicht autistische Eltern sind sich oftmals gar nicht bewusst, wie differenziert ihr Kind die Welt erlebt und wissen damit nicht, wo ansetzen. Während das autistische Kind nicht versteht, warum es nicht verstanden wird oder warum einfachste Aktivitäten überfordernd sind. 

Das kann schnell zu einer Negativspirale führen, aus der immer mehr Frust, Ohnmacht und Aggression entsteht.

Die zwei Gesichter der autistischen Aggression:

Im Autismus haben wir es mit zwei unterschiedlichen Grundstrukturen von aggressivem Verhalten zu tun, welche sich jeweils gegen Außen oder Innen wenden.

Die „normale“ Aggression äußert sich in einem ersichtlichen Kontext und das Kind kann unter Umständen angesprochen, beschwichtigt oder getröstet werden. Die Ursachen sind klar erkennbar Frust, Ohnmacht oder Wut.

Zum Beispiel beim spielen mit einem anderen Kind, versucht dein autistisches Kind etwas wichtiges zu erklären, was gravierend zur Regulierung seiner inneren Welt gehört und das neurotypische Kind versteht es einfach nicht.

Oftmals geht es dabei um, für das Kind, existenzielle Regeln. Für Außenstehende wirken diese aber banal und oftmals völlig absurd. Dieses Nicht-verstehen führt sehr schnell zu Wutanfällen. Die Wut kann sowohl auto-aggressiv oder sich gegen andere richten. Manche Kinder schlagen ihren Kopf an die Wand/ auf den Boden, reißen die Haare aus, kratzen sich oder bekommen einen Schreikrampf. Werfen mit Gegenständen oder im schlimmsten Fall verletzen sie ihren Spielkameraden und zerstören damit das so kostbare Vertrauen ineinander.

Von außen gesehen ist dieses Verhalten wohl kaum nachvollziehbar.

Man muss sich vor Augen führen, dass der Autist gerade aus einer unglaublich großen inneren Not heraus agiert. Wenn man eine Regel hat dann MUSS die beachtet werden, sonst explodiert man. Leider können diese Muster alles betreffen. Zum Beispiel, dass man beim Malen für Kreise nur Blau verwenden darf, nimmt der Spielkamerad dann Gelb, ist das eine Katastrophe. Für dein Kind fühlt es sich an, als breche die Welt auseinander. Es verliert seine Sicherheit, seinen stabilen Stand und damit seinen Platz in der Welt.

Es erfordert sehr viel Geduld und Zeit um zu lernen, dass diese Ideen nur im eigenen Kopf existieren und nichts schlimmes passiert, wenn man sie missachtet.

 

Man muss klar zwischen der normalen kindlichen Aggression, entstanden durch Frust, Hilflosigkeit, Müdigkeit, Ablehnung etc. und der im Meltdown entstehenden Aggression unterscheiden. Hierzu habe ich bereits  Artikel verfasst.

autistischer Junge kurz vor dem Meltdown
Meltdown
Kind während eines Overloads
Overload

Im Falle eines Meltdown hat dein Kind keine Möglichkeit, die auftretenden Impulse in den Griff zu bekommen. Da setzt man mit dem Training vor dem Overload an, in dem das Kind lernt, besser mit Reizen umzugehen und seine Grenzen diesbezüglich klar zu formulieren.

In vielen Fällen findet das selbstverletzende Verhalten hier die Ursache. Ich persönlich habe nie erlebt, dass ein Mensch im Autismus-Spektrum sich freiwillig, bewusst und zielgerichtet selbst verletzt. Damit möchte ich nicht sagen, das kommt niemals vor, ich halte es nur für unwahrscheinlich und würde da immer im Sinne von „im Zweifel für den Angeklagten“ urteilen und davon ausgehen, dass das Kind keine Kontrolle hat. Schmerz wirkt auf eine paradoxe Art beruhigend auf das Nervensystem. Es zentriert alle Eindrücke/Reize auf diesen einen Punkt und lenkt den Fokus vom Außen auf das Innen. Das System schützt sich damit als eine der letzt möglichen Maßnahmen vor der Eskalation und in der Regel spüren sich die Betroffenen nicht mehr. Der Schmerzreiz kommt nicht beim Hirn an, sondern verschwindet im Wirrwarr der Reize.

Aggressives Verhalten ist in diesem Fall ein Schutzsystem des Gehirns und kein bewusster, kontrollierbarer Akt. Wenn ich ehrlich bin, ist mein persönliches Spektrum an Handlungsoptionen da bis heute massiv eingeschränkt. Gerate ich erst einmal in einen Overload, bin ich dem darauf folgenden Sturm hilflos ausgesetzt. Ich bin 33 Jahre alt, habe mein Leben im Griff, bin sportlich und meine Körperkontrolle ist gut. Aber in einem Meltdown, werde ich zum Opfer meines eigenen Nervensystems.

 

Wenn ich als erwachsener, bewusster Mensch darüber keine Kontrolle mehr habe, wie könnte man das von einem Kind erwarten?

Die Kunst liegt in der Vermeidung dieses Szenarios. Man lernt, vorzubeugen, seine Grenzen zu kennen, sich mit fördernden Aspekten des Lebens zu umgeben und Ruhephasen einzuplanen. Umso besser man darin wird, desto geringer wird das Risiko eines Overloads.

In vielen Fällen wird dieses Verhalten mit zunehmendem Alter weniger. Kinder lernen, vorher die Notbremse zu ziehen, oder den Kontrollverlust nach hinten hinauszuzögern. Autisten verstehen, wenn man es ihnen immer wieder erklärt, wann so ein Verhalten einfach nicht geht. Wenn sie wissen, in 5 Minuten kann ich die tausend Impulse in meinem Körper raus lassen, können sie lernen, den Drang aufzuschieben.

Mir ist es wirklich wichtig, hier mit aller Deutlichkeit zu betonen, dass mit deinem Kind alles in Ordnung ist, wenn es solche schwierigen Verhaltensmuster zeigt. Sie ruinieren nicht sein Leben und machen es nicht zu einem Menschen, der anderen Schaden zufügt.

Es ist einfach nur ein sehr deutliches Anzeichen dafür, dass dein Kind mehr Unterstützung braucht!

Und jetzt zu der wichtigsten Frage in diesem Zusammenhang.

Was hilft autistischen Kindern, besser mit ihrer Aggression umzugehen?

– Geduld & Ruhe
Das Schlimmste ist, wenn die Bezugsperson in so einem Moment selber hektisch, unruhig, wütend oder traurig wird. Das autistische Kind wird keine Chance haben, in so einer Situation auch nur ansatzweise eure Gefühle zu lesen. Der Druck in seinem Inneren, wird sich erhöhen, was dieses Verhalten fördert. Bleib ruhig, versuche zu verstehen, dass dein Kind gerade selber die Kontrolle verliert und jetzt mehr als sonst deine Empathie, einen abgeschirmten Bereich und Ruhe braucht.

– Wissen
Bring deinem Kind bei, wie differenziert wir Menschen die Welt wahrnehmen. Arbeite immer mal wieder in kurzen Sequenzen die Unterschiede zu neurotypischen und autistischen Menschen heraus. So erfahrt ihr gegenseitig voneinander, worin ihr euch unterscheidet und fördert neben den Sozialkompetenzen eure Bindung.

– Keine Vorwürfe
Das Kind hadert schon genug mit seinem Unvermögen, sich gesellschaftkonform zu verhalten. Es wäre gerne unauffällig und normal, was auch immer Normal sein mag. Zeigt ihm nach solch einer Eskalation, ich sehe dich, du bist wertvoll, ich möchte dich verstehen und mit dir gemeinsam lernen, wie wir es morgen etwas besser machen können. Ich vertraue uns beiden, dass wir Wege und Lösungen für dich und uns als Familie finden werden.

-Ich-Botschaften
Sag deinem Kind, ohne Vorwürfe, was du fühlst. Ich liebe dich so sehr und wenn du dich selbst verletzt, habe ich Angst um dich und fühle mich hilflos. Manchmal macht es mich wütend, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Was versuchst du als Elternteil, gegen deine Wut zu tun, wie bekommst du deine Gefühle unter Kontrolle? Reflektiert solche Mechanismen gemeinsam, um daran zu wachsen.

-Autogenes Beruhigungstraining
Die Reizverarbeitung des Kindes gemeinsam studieren, schriftlich festhalten und so erörtern, was unterstützt den Reizabbau, was belastet ihn am meisten, wo liegen die Stärken. Rituale helfen deinem Kind, dienliche Strategien zu festigen und in der Belastung anzuwenden.

-Skalierbare Werte
Entwickelt gemeinsam mit eurem Kind eine Reizskala von z.B 1 (tiefenentspannt) bis 10 (Meltdown). Überlegt euch für die verschiedenen Stufen Ideen, wie man eine Stufe nach unten klettert. Beruhigende Musik, das Lieblingsbuch, sensorische Reize wie Händeflattern, Fingernägelkauen, Klopfen etc beruhigen Kinder sehr. Gibt es ggf Ersatzhandlungen, die in der Gesellschaft besser toleriert werden? So kann euer Kind mit nur einer Zahl signalisieren, wo es steht. Z.B beim Einkaufen, kann es sagen, Mama/Papa 8. Dann wisst ihr, dass ihr den Einkauf abbrechen und das Kind schnellstmöglich nach Hause schaffen müsst oder was immer euch dann hilft, wieder runter zu fahren.

-Alternativ-Verhalten
Die höchste Kunst ist es, alternative Muster aufzubauen. Das ist jedoch eine Stufe für fortgeschrittene Autisten und die Masterclass, wenn man so möchte. Man kann schon früh mit Kindern die Saat dafür setzen, in dem Man sich spielerisch Alternativen ausdenkt und diese übt, ohne die Erwartung, dass sie perfekt funktionieren werden. Es ist eine Investition in die Zukunft.

Autistische Kinder haben große Schwierigkeiten zu lernen, diese Stufen einzuschätzen und vor allem, sie zu kommunizieren. Entwickelt gemeinsam mit dem Kind und anderen Bezugspersonen (Kindergarten/Schule) Tools, die eine Verständigung minimieren und erleichtern.

Ich hoffe, diese Ansätze helfen dir und deinem Kind weiter. Sie sind als Inspiration zu verstehen, nicht als Regeln. Jeder Mensch ist einzigartig, jede Familie braucht individuelle Lösungen die in ihr Leben passen, um zu funktionieren.

 

Falls du noch weitere Ideen oder Erfahrungen hast, freue ich mich immer über eine E-mail und persönlichen Kontakt.

Diese Seite verwendet Cookies um die Darstellung für Sie als User zu verbessern. Um die Inhalte besser auf Sie abstimmen zu können, wird Google Analytics verwendet. Sämtliche verwendeten Userdaten sind anonymisiert. In der Datenschutzerklärung finden Sie die Möglichkeit, sich aus Analytics auszutragen. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen